Was am Ende zählt Eine Kolumne von Sibylle Berg
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Wer einsam ist, kann anderen Menschen nur mit Fassungslosigkeit und Beklemmung beim Leben zuschauen. Um dem schlimmsten aller Gefühle zu entkommen, hat man nur eine Wahl: Man muss sich auf die freundlichen Kleinigkeiten einlassen. An die Wand sehen, aus dem Fenster sehen, die Schritte hören, wieder raus sehen, andere Menschen sehen. Die reden, die lachen, die fassen sich an. Das ist ein Schmerz, sie so zu sehen, die anderen Menschen, daneben zu stehen, ein Graben dazwischen, Löwen unten drin, diese Sehnsucht sie zu sein, aus sich heraus zu sein, da muss es warm sein. Wo die anderen sind. Der Einsame kennt das Wort nicht zu seinem Zustand, er weiß nicht, dass es ein Zustand ist, es ist einfach: sein Leben. Vielleicht war der Einsame früher zufrieden, in einem warmen Ofen, der Liebe heißt, und dann war der Geliebte weg, die Seite, wo er schlief im Bett, leer. Da kann man einen Teddy auf das Kissen legen, ein Bild des Geliebten, es wird nicht helfen, es hilft nicht. Es wird vielleicht besser, der Schmerz lässt nach, ein Trick der Evolution, aber die Stille in einem, die bleibt. Begleitet einen auf dem Weg in die Küche, zur Arbeit, man kann reden, aber es sind immer die falschen Menschen, man kann versuchen zu lachen, aber weiß nicht worüber. Wie auf einem fremden Planeten abgeladen ist der Einsame, abends in seiner Wohnung ist blaues Licht und eine Enge in der Brust. Vielleicht ist auch keiner gegangen, möglicherweise war nie jemand da, und der Einsame ist einsam, weil er die Albernheit des Lebens zu deutlich sieht. Wie kann man leben und sich der Vergänglichkeit wirklich bewusst sein? Das geht doch nur mit Verdrängung, sonst würde man das Bett doch nicht mehr verlassen. Man muss dem Mist eine Chance geben, den Nichtigkeiten eine Bedeutung, weil wir sonst vor Angst erstarren würden. Und manchmal nachts im Frühling träumt man, es sei schon wieder Herbst. Diese Nichtigkeit, die man spürt, an manchen Tagen, wenn man erwacht, wie immer, um die gleiche Zeit, und weiß, dass alles, was man tut, eine Routine ist, und mitunter tut es so weh, sich am Morgen bereits wieder nach dem Abend zu sehnen. Und nicht mehr an Großes zu glauben. An nichts mehr zu glauben, zu keinem zu reden, bis die Stimme rau wird. Was kann man tun mit dieser Traurigkeit im Bauch, die jeden Tag mit einem spazieren geht. Der Einsame ist allein mit jemandem, den er nicht mag. Sich selber. Das bringt die Wände zum Klirren, den Atem zum Frieren. Fast jeder kennt solche Zeiten. An denen man sich fallen lassen möchte vor Müdigkeit, von Unsinn des Lebens, das man spürt mit jedem Schritt. Was bleibt ohne Kontakt zu sich oder anderen, ohne Anteil und ohne mal ein freundliches Wort, ohne jemanden, der mit einem gegen die Welt steht. Die Einsamkeit endet für die meisten wie ein schlechter Traum, geht vorbei, macht im Nachhinein noch ein wenig schaudern in der Erinnerung des Grauens. Dass wir vergessen und uns wieder wie selbstverständlich verlieren. In all den freundlichen Kleinigkeiten, die am Ende zählen werden. Essen und TV-Serien und Freunde, ein Kaffee auf dem Balkon, und der Hund, der nett schaut. Wir haben für Sekunden in die Hölle geblickt und sind gerade noch einmal davon gekommen. Einsamkeit ist schlimmer, als gestorben zu sein. Jens M., ich danke dir für den Hinweis darauf
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