andrea heitz
Warum ist Glück flüchtig?

Eines Tages empfand das Glück tiefes Unglück. Betrübt saß es auf einem Stein, sich die Frage stellend: „Warum darf ich nie lange bei jemandem bleiben? Kaum bin ich wo gelandet, muss ich schon wieder weg, oft noch bevor dieser jemand bemerkt hat, dass ich da war." Mit nach unten gezogenen Mundwinkeln saß es auf einem Stein und malte Fragezeichen in den Kies.

Da kam die Zufriedenheit vorbei, milde lächelnd wie immer. „Hallo Glück", sagte sie sanft, „was ist denn mit dir los?" Das Glück runzelte die Stirn, Widerwille verspürend, sich erklären zu müssen. Aber dann brach es doch aus ihm heraus: „Immer muss ich gleich wieder verschwinden. Gestern zum Beispiel war ich bei einer jungen Frau, die seit Tagen um ihren Sohn gezittert hatte. Der kleine Junge war wegen eines Tumors am Kopf operiert worden und dann stand endlich fest, dass das Gewächs nicht bösartig war. Ihr Herz schlug Purzelbäume, sie konnte nicht mehr zwischen Lachen oder Weinen unterscheiden und sah schöner aus als alle Schönheitsköniginnen zusammen. Heute Morgen erklärte ihr ihr Chef, er müsse ihr kündigen, er könne keine Teilzeitkraft gebrauchen, die sich ständig Pflegeurlaub nimmt. Also habe ich mich wieder abflugbereit gemacht. Und jetzt streike ich. Warum konnte ich nicht wenigstens drei Tage bei ihr bleiben?"

Die Zufriedenheit blickte in das unzufriedene Gesicht des Glücks. Sie verstand seinen Frust, erging es ihr doch genauso. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Langsam ging die Sonne unter und verwischte mit ihrer rosigen Wärme die scharfen Konturen der Welt. Dann sagte die Zufriedenheit: „Weil du das Glück bist und keine Gewohnheit." Je dunkler es wurde, umso mehr leuchtete das dem Glück ein.


© andrea heitz