Auszug aus dem Vortrag von Dr. Thorwart "Simone de Beauvoir: Vorzeitiger Altersabbau als Resultat der kapitalistischen Gesellschaftsordnung"




Wer sich sein ganzes Leben in die Arbeit gestürzt hat oder in Arbeit unter immer verschärfteren Arbeitsbedingungen gestürzt wurde, hat keine Zeit sich auf das Alter vorzubereiten. Plötzlich wird er aus dem gesellschaftlichen Arbeitsleben ausgeschieden und ist unvermittelt auf sich selbst und sein eigenes Leben zurückgeworden. Ein Leben lang hat er sich der Arbeitswelt und Ökonomie unterworfen, die vom Gesetz der Gewinnmaximierung und des Wirtschaftswachstum bestimmt sind. Nun, da er nicht mehr so leistungsfähig ist, wird er ausgeschieden – und steht im Alter allein gelassen vor seinem Leben. Die Überforderung, mit seinem Leben im Alter zurechtzukommen, nachdem man ihn sein ganzes Leben gezwungen hat, anderen Interessen zu dienen, als den eigenen, macht viele Menschen im Alter ratlos. Die Subjekt-Objekt-Verkehrung unter der das Leben und mit ihm auch das Alter im Kapitalismus zu leiden hat, hat am schärfsten die französische Philosophin Simone de Beauvoir zum Ausdruck gebracht. In ihrem Essay "Das Alter (1970)" fasst sie die Lebenssituation der breiten Mehrheit der Bevölkerung exemplarisch zusammen, wenn sie nach ihrer lebenslangen Unterwerfung unter die Zwecke der Ökonomie im Alter dem Leben gegenüber mit leeren Händen dastehen:

"Wenn der Rentner an der Sinnlosigkeit seines gegenwärtigen Lebens verzweifelt, so deshalb, weil ihm die ganze Zeit hindurch der Sinn seiner Existenz gestolen worden ist. Ein Gesetz, ebenso unerbittlich wie das eherne Gesetz, hat ihm nur gestattet, sein Leben zu reproduzieren, und ihm die Möglichkeit, Rechtfertigungen dafür zu finden, verwehrt. Wenn er nun den Zwängen seines Berufes entrinnt, sieht er um sich her nur Wüste; es war ihm nicht vergönnt, sich Entwürfen zu widmen, die die Welt mit Zielen, Werten, Seinsgründen bereichert hätten. […] Es ist die Schuld der Gesellschaft, wenn der Altersabbau bei ihnen vorzeitig einsetzt und wenn er sich so rasch vollzieht, in einer physisch schmerzhaften und seelisch grauenvollen Weise, weil sie ihm mit leeren Händen gegenüberstehen." (Bibliographie: Simone de Beauvoir, Das Alter. Essay (1970), übers. v. Anjuta Aigner-Dünnwald und Ruth Henry, Hamburg 1972)

Die Resignation im Alter, der dann einsetzende vorzeitige Altersabbau und sein rasches Voranschreiten sind nach Simone de Beauvoir nicht etwa Bedingungen eines ‘natürlichen’ Altersprozesses (und damit hinzunehmen), sondern Konsequenzen der zynischen Vernutzung der Menschen im Kapitalismus. Simone de Beauvoir gibt auch die Antwort darauf, wie ein humanes Altern auszusehen hätte: Wie müsste eine Gesellschaft beschafffen sein, damit ein Mensch auch im Alter ein Mensch bleiben kann?
Die Antwort ist einfach: Er muss immer schon als Mensch behandelt worden sein.